Herr Borsdorf, Sie waren 1999 Direktor des Ruhrlandmuseums. Welche Erinnerung haben Sie als Zeitzeuge an die Gründung der Route Industriekultur vor 25 Jahren auf Zollverein?
Ich war damals so sehr auf die kuratorische Arbeit für die IBA-Abschlussausstellung „Sonne, Mond und Sterne“ fokussiert, dass ich nur bedingt als Zeitzeuge tauge. Meiner Meinung nach wichtig für den Erfolg der Route Industriekultur war, dass Karl Ganser den Vorschlag gemacht hat, die Route beim Regionalverband Ruhr anzusiedeln und damit die Finanzierung zu sichern, anstatt eine Stiftung oder eine andere Art von Institution als Träger zu gründen. Zollverein selbst war für die Gründung als schon damals ikonischer Ort des Ruhrgebiets bestens gewählt, befand sich der Standort doch bereits auf dem Weg zum Welterbe, denn die Bewerbung dazu lag längst vor.
Die IBA gilt als Wurzel der Route Industriekultur. Können Sie beschreiben, was sich damals ereignet hat?
Die IBA war auf den Emscherraum konzentriert, der damals in der Region die größten Defizite hatte. Das Strukturentwicklungsprojekt erstreckte sich über die Bereiche Landschaftsplanung, Wasserwirtschaftsgestaltung, Erhaltung und Neunutzung von Gebäuden und Anlagen, von Siedlungen und nicht zuletzt Kultur. Die Route Industriekultur diente dabei als wesentliche Orientierungshilfe. Eine wichtige Rolle spielte zudem auch die Landmarken-Kunst, durch die die Halden zu Orten der Kunst und Kultur aufgewertet wurden und aus dem Einerlei von ehemaligen Industrieflächen im Wortsinn herausragten. Aus der IBA hervor ging übrigens auch das Konzept zur Gründung des Ruhr Museums.
1999 erschien ebenfalls Ihr Buch „Orte der Erinnerung“, wahrscheinlich Zufall. Oder ging es darin auch um Orte der Industriekultur?
Die Literatur- und Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann haben den Diskurs der Erinnerungskultur, des kulturellen Gedächtnisses auch im Ruhrgebiet angestoßen. Dies führte zu einer von Heinrich Theodor Grütter und mir konzipierten Vorlesungsreihe mit dem Titel „Orte der Erinnerung“ Mitte der 1990er-Jahre im Ruhrlandmuseum, die viel Zuspruch aus der Gesellschaft erfuhr. Dieser Diskurs über die Erinnerungskultur war eine Art gedanklicher Vorlauf, sich mit Industriekultur tiefergehend zu beschäftigen. Die Route Industriekultur war eine folgerichtige Antwort darauf.
Welche Bedeutung hat Industriekultur und insbesondere die Route Industriekultur für das Ruhrgebiet aus Sicht eines Historikers?
Industriekultur ist zurecht ein eigener Zweig der Kultur geworden und bietet im Ruhrgebiet eine enorme Breite. Ich kenne kein vergleichbares Projekt, das derart niederschwellig die Kultur der Region vermittelt – und das häufig völlig kostenlos. Dass allein die 27 Ankerpunkte in den vergangenen 25 Jahren von 115 Millionen Menschen besucht worden sind, zeigt den Erfolg. Anhand der Orte der Route Industriekultur wird das kollektive Gedächtnis gespeist und so auch an die damit verbundenen Menschenleben erinnert. Das schafft Identifikation. Es ist allerdings wichtig, dass wir uns bei der Geschichtskultur nicht nur auf das Sichtbare beziehen, also die Gebäude, sondern ebenso das Unsichtbare wahrnehmen. Das ist insbesondere die Aufgabe der Museen. Auch wenn es heute in erster Linie darum geht, mit der Route die Industriekultur erlebbar zu machen, ist es ebenso wichtig, auch die kritisch zu betrachtenden Folgen der Industrialisierung zu untersuchen und zu deuten.
Was zeichnet das UNESCO-Welterbe Zollverein als Ankerpunkt der Route Industriekultur aus?
Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen: Noch zu Zeiten in meiner Funktion als Direktor des Ruhr Museums und auch in der Folge als Historiker war ich in vielen Ländern Europas und sogar darüber hinaus als Sprecher eingeladen, um über das Wesen des Ruhrgebiets und die Gestaltung seines Wandels zu berichten. Die Zuhörerschaft, egal wo ich zu Besuch war, hat die Entwicklung auf Zollverein stellvertretend für die Region sehr bewundert. Der Standort wirkt weit über die Landesgrenzen hinaus.
Welchen Wert hat Industriekultur touristisch gesehen?
Am Anfang habe ich den touristischen Stellenwert der Industriekultur ehrlich unterschätzt. Die ökonomischen Effekte sind ziemlich groß. Die Gäste kommen heute aus aller Welt. Zollverein ist nicht nur ein Denkmal, sondern der Ort des Wandels. Deshalb wird das Welterbe neben dem Kölner Dom zuletzt immer häufiger als wichtigste Sehenswürdigkeit in Nordrhein-Westfalen benannt.
Das Gespräch führte Guido Schweiß-Gerwin