Eine Abendtasche, filigran aus Metall gearbeitet. So schön, dass man sie nicht übersehen kann. Schon gar nicht hier, in Halle 8 auf Zollverein. Die Tasche ist Teil der Ausstellung „Sechzehn Objekte“, die die Stiftung Zollverein und der Freundeskreis Yad Vashem e.V. anlässlich des 70-jährigen Bestehens der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem noch bis Ende Mai zeigen. Zuvor war die Ausstellung im Deutschen Bundestag in Berlin zu sehen. Alle sechzehn Objekte stammen aus der Sammlung von Yad Vashem und waren Teil des jüdischen Lebens in Deutschland.
Ein Objekt für jedes Bundesland
„Wir zeigen für jedes Bundesland ein Objekt“, erzählt Ruth Ur, Kuratorin der Ausstellung und Direktorin der Deutschland-Repräsentanz von Yad Vashem. „Damit jeder Mensch in Deutschland sich mit einbezogen fühlt.“ Alle sechzehn Objekte waren Alltagsgegenstände und wären es geblieben, wenn dieser Alltag nicht jäh zerstört worden wäre durch den Holocaust. Wie im Fall von Jenni und Hermann Bachrach aus Essen. Nach dem Novemberpogrom schickten sie ihre Adoptivtochter Eva nach England. Sie selbst konnten nicht flüchten. Stattdessen: Deportation und Tod. 1952 übergab Hermanns Anwalt Eva persönliche Gegenstände ihrer Adoptiveltern. Darunter Jennis Abendtäschchen. Soweit die Eckdaten. Die ihre Schlagkraft entfalten, wenn wir uns die Menschen vorstellen, die dahinterstehen. Da ist Anneliese Dreifuss, die mit Schwester und Vater ins Exil in die Vereinigten Staaten ging. Im Gepäck eine Miniatur-Küche. Da ist Lilo Ermann, die als Jugendliche in Auschwitz ermordet wurde und ein Poesiealbum hinterließ, bewahrt von ihrem Großvater, der den Holocaust überlebte. Da ist Familie Margulies, die einen Sohn im Holocaust verlor und nach Israel floh – im Schiffscontainer mit Habseligkeiten auch ein Klavier. Da ist Anneliese Borinski, die dem Jugendbund „Maccabi Hatzair“ angehörte. 1939 versammelten sich die Mitglieder des Bundes und zerschnitten dessen Fahne in zwölf Teile. Das Versprechen: Nach dem Krieg wollten sie sich in Israel wiedersehen und die Fahne zusammensetzen. Anneliese wurde nach Auschwitz deportiert. Auf dem Todesmarsch im Januar 1945 gelang ihr die Flucht. Das Fahnenfragment trug sie immer bei sich. Da sind Bertha und Jakob Weinschenk, Karoline Süss, Marion Feiner, Lore Stern, Familie Laufmann, Sigi Rapaport, Hermann Zondek, Selma Vellemann, Leon Daniel Cohen, Josef Wolf, da ist das Ehepaar Arthur und Rosi Posner. „Dass die Familien der Besitzer – wenn es sie gibt – erlauben, dass die Objekte nun nach Deutschland zurückkehren, ist sehr großzügig“, sagt Ruth Ur. „Und es zeigt: Wir wollen uns mit den Menschen in Deutschland verbinden.“
Wie Stolpersteine
Da sind sechzehn Geschichten. Sechzehn Geschichten von viel zu vielen. Geschichten von Flucht, Exil, Deportation und Mord. Manchmal sind nur wenige Eckdaten bekannt. Zum Beispiel im Falle des Koffers, auf den die Besitzerin Selma Vellemann ihren Namen, ihr Geburtsdatum und den Namen der Stadt schrieb, in der sie lebte: Bremen. Der Koffer wurde viele Jahre nach dem Krieg in Berlin gefunden. Recherchen in den Archiven von Yad Vashem ergaben, dass Selma an ihrem 66. Geburtstag aus dem Altersheim abgeholt und nach Theresienstadt deportiert wurde. Dass sie zwei Monate später im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurde. Seine Funktion für die Ausstellung erfüllt der Koffer auch ohne mehr Hintergrundwissen. Die Objekte funktionieren wie Stolpersteine. Sie machen aufmerksam und irritieren. Ruth Ur war es wichtig, eine sehr visuelle Ausstellung zu konzipieren: „Sie sollte schön aussehen, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu wecken, ihre Neugier. Die Erinnerungskultur in Deutschland leidet unter der alten Sprache. Es gibt oft viel Text und alte Dokumentarfotos. ‚Sechzehn Objekte‘ soll minimalistisch und schlicht sein und ohne Emotionen daherkommen. Die Besucherinnen und Besucher sollen nicht gezwungen sein, ein bestimmtes Gefühl zu haben, sondern Platz für ihre eigenen Gefühle haben.“
Teil des deutschen Lebens
Hinter jedem der Objekte ist ein großformatiges Foto zu sehen, das zeigt, wie der Ort, an dem die Gegenstände früher zu finden waren, heute aussieht. „So schlägt die Ausstellung eine Brücke zwischen damals und heute“, erklärt Ruth Ur, „zwischen den Betrachtenden und ihrem Heimatort. Bei einer Führung sagte mir eine Frau: ‚Ist das auf dem Bild die Breite Straße in Hamburg? Da bin ich aufgewachsen.‘“ Ergänzt werden die Objekte außerdem durch wenige Dokumente ihrer Besitzerinnen und Besitzer. Vor allem durch Fotos. Fotos von Menschen, die Klavier geübt und mit Puppen gespielt haben. Die gelacht und geweint, geliebt und gelebt haben. Stellen wir uns vor: Das hätte das Klavier unseres Vaters sein können. Die Puppe unseres Kindes. Die Abendtasche unserer Mutter. Das Poesiealbum unserer Enkelin. Denn die Objekte waren nicht nur Teil des jüdischen, sondern eben auch des deutschen Lebens. „Die Menschen spüren: Das ist unsere Geschichte“, sagt Ruth Ur.
„Sechzehn Objekte“ ist nicht die erste Ausstellung von Yad Vashem mit der Stiftung Zollverein. 2020 zeigte „SURVIVORS“ Porträts von 75 Shoah-Überlebenden. Inzwischen sind viele davon gestorben. „Wir befinden uns in einer Zeit des Übergangs“, sagt Ruth Ur. „Es wird nicht mehr lange dauern, bis alle Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Shoah gestorben sind. Wir müssen neue Wege erarbeiten, ihre Geschichten lebendig zu halten. Bei ‚Sechzehn Objekte‘ stehen die Objekte stellvertretend für die Überlebenden. Wie dieses Abendtäschchen. Es wirkt so fragil, so kultiviert. Es weckt Assoziationen mit Bällen, Theater, Konzerten, im Kontrast zu der schrecklichen Geschichte, für das es in der Ausstellung steht.“ An Familie Bachrach erinnert in Essen übrigens auch ein Stolperstein. Vor dem Haus Nummer 14 in der Moorenstraße. Wo Jenni Bachrach manches Mal über die Pflastersteine flaniert sein mag – ihr Täschchen fest in der Hand.
Zur Ausstellung bieten der Freundeskreis Yad Vashem e.V., die Alte Synagoge in Essen und die Stiftung Zollverein ein umfangreiches Rahmenprogramm an. In einer Vortragsreihe wird das Thema Erinnerungskultur im Wandel der Zeit in den Mittelpunkt gerückt. Im Rahmen von Führungen (auch durch die Kuratorinnen) erfahren Gäste spannende Hintergründe zu den Objekten. Bei Spaziergängen erwandern die Teilnehmenden die Spuren jüdischen Lebens in Essen und besuchen Orte, an denen die Besitzerin des Essener Objektes gelebt hat.
Freundeskreis Yad Vashem e.V.
Eine der zentralen Aufgaben des 1997 gegründeten deutschen Freundeskreises von Yad Vashem ist, die Arbeit der internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Dafür stärkt der Verein nicht nur die Beziehungen zwischen der Holocaust Gedenkstätte und deutschen Institutionen, sondern bietet zahlreiche Bildungs- und Gedenkprogramme in Zusammenarbeit mit Yad Vashem an.
Der Eintritt in die Ausstellung ist frei.